Das Schaufenster.
Von der Verzauberung zur Verwirklichung
15.12.2021
Wer vor das Haus in der Kolmarer Straße 3 in Berlin tritt, sieht neun paar Augen, die hinter den Glasscheiben einzelner Fenster auf die Straße gerichtet sind. Die Augen gehören Figuren aus Pappkarton, die sich bedeutsamen Persönlichkeiten zuordnen lassen. Es handelt sich um bekannte Fälle von inhaftierten Menschenrechtsverteidiger*innen und Politiker*innen – unter anderem die LGBT-Aktivistin Shakiro aus Kamerun, der türkische Unternehmer Osman Kavala, der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny, WikiLeaks-Gründer Julian Assange und die entmachtete burmesische Regierungschefin Aung San Suu Kyi.
Sie alle sitzen derzeit aufgrund ihrer politischen Ideen und ihres aktiven Engagements oder ihrer sexuellen Identität im Gefängnis. Der deutsche Künstler Nasan Tur produzierte die figurative Arbeit mit dem Titel Locked Up im April 2021 und stellte sie in seiner eigenen Wohnung sowie Wohnungen seiner Nachbar*innen auf. Sie war zugleich Teil des berlinerischen Kunstprojekts Die Balkone 2, einem Ausstellungsparcours mit künstlerischen Beiträgen in den Fenstern und auf Balkonen im Stadtteil Prenzlauer Berg, die das Interesse der Passant*innen während der Corona-Pandemie wecken sollte.
Im Kontext des Häuslichen treten Balkone und Fenster als Öffnungen und als Schnittstellen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen auf. Sie repräsentieren den Zwischenraum von innen und außen und verbinden das Individuum mit einem Kollektiv, die Bewohner*innen mit ihrer Stadt.
Als wichtiges Werbemittel für den Handel prägt das Schaufenster die Passagen und das Bild der modernen Großstadt. Der Vorbeigänger verkörpert dabei im Benjamin’schen Sinn den Typus des großstädtischen Flaneurs beim Suchen der nouveauté inmitten der inszenierten Panoramen und der Fülle an Konsumware hinter Glas. Die Ware erscheint als magische Attraktion. Um 1900 bereits regten solche Produktinszenierungen die Schaulust, einen Objekt-Fetischismus sowie Verzauberung und die jouissance, das Vergnügen, bei den Konsument*innen an. Das Pariser Palais-Royal gilt allgemein als das früheste Vorbild für große Einkaufspassagen. Lange Fensterfronten charakterisierten die Geschäfte, die neben der Aristokratie auch von der aufstrebenden Mittelschicht geführt wurden und zu stundenlangem Flanieren sowie kapitalistischen Fantasien einluden. In seinen Pariser Passagen nimmt Walter Benjamin die neue Warengesellschaft in den Blick:
Um die Bedeutung der nouveauté zu erfassen, muß man auf die Neuigkeit im täglichen Leben zurückgehen. Warum teilt jeder dem andern das Neueste mit? Wahrscheinlich um über die Toten zu triumphieren. So nur, wenn es nichts wirklich Neues gibt.
Und:
Zum erstenmal in der Geschichte beginnen, mit der Gründung der Warenhäuser, die Konsumenten sich als Masse zu fühlen. (Früher lehrte sie das nur der Mangel.) Damit steigert sich das circensische und schaustückhafte Element des Handelns ganz außerordentlich. A4, 1
Nach der erlebten Isolation und dem Fehlen von Ausstellungsmöglichkeiten oder Besuchen in Theater, Museen und Galerien während des ersten Lockdowns eröffnen aus Sehnsucht nach Kunst außerhalb von digitalen Kontexten zahlreiche Ausstellungen in Schaufenstern. Denn was bestehen bleibt, ist der Spaziergang durch die Stadt.
Neben den Schaufenstern der Passagen lässt sich eine weitere Referenz zum Paris des 19. Jahrhunderts aufzeigen. Die Erfindung des Dioramas von Louis Daguerre spielt eine entscheidende Rolle in der Geschichte der visuellen Kultur und des Massenspektakels. Seine große halbtransparente Leinwand, hinter der natürliche oder künstliche Lichter atmosphärische Effekte erzeugen, gilt als Vorreiter des Kinos. Anders als gedacht wird das Diorama jedoch eher als unterhaltsames pädagogisches Instrument in Naturkundemuseen benutzt. In diesem Kontext bezeichnet es eine Vitrine mit einer dreidimensionalen Urlandschaft aus Wandmalerei, Requisiten, Tieren und Figuren. Sie erscheint in Zeit und Raum erstarrt und beeinflusst die Wahrnehmung und das Realitätsempfinden des Publikums. Das Diorama stellt somit eine frühe Form der virtuellen Realität dar, in der Fantasie und Fiktion mit der Schaffung und Vermittlung von Geschichte, Wissen, Kunst, Naturwissenschaft und Anthropologie verschmelzen.
Die allmähliche Transgression der Kunst in die Werbefläche und umgekehrt der Einfluss der Vitrinenästhetik und des Dioramas auf die Kunst entwickeln sich aus einem Bedürfnis nach intellektuellem und emotionalem Gehalt. Kunst statt Konsumgut. Zwischen Zuschauer*in und dem betrachteten Objekt wird durch aktives, situiertes Sehen eine Beziehung hergestellt. Das erneuerte und dekonstruierte Diorama fungiert spätestens im 20. Jahrhundert als Präsentationsform mit zeitgenössischen und politischen Themen wie Konsumverhalten, Umweltverschmutzung oder Institutionskritik.
Mit Locked Up ruft Nasan Tur die Passant*innen dazu auf, die eigenen Befindlichkeiten, Prioritäten und Einschränkungen mit denjenigen Akteur*innen, die ihre Freiheit verloren haben, zu vergleichen. „Ein Akt der Solidarität“, so der Künstler. Ein Perspektivwechsel und Neuverhandeln von Bedürfnissen.
Das Schaufenster erweist sich als eine diaphane Raumgrenze und agiert zugleich als Intermediär zwischen Kollektivität, Individuum, Privatem, Öffentlichkeit und Kunstraum. Es symbolisiert einen äußeren und inneren Denkraum zwischen dem Lokalen und dem Globalen und ist ein geeignetes und unterschätztes Medium, um der analogen und digitalen Starre entgegenzuwirken.
Quellenverzeichnis:Walter Benjamin: Paris, Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: Gesammelte Schriften V, herausgegeben von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1982.
Auswahl an weiterführender Literatur zum Schaufenster in der Kunst: Nina Schleif: Schaufenster Kunst. Berlin und New York 2004. Sandrine Le Corre: L’Esthétique de la vitrine, Paris 2018.
Beispiele von modernen Werken und Künstler*innen: Le Vide von Yves Klein, Le Plein von Arman, die Mannequin-Fotoserie von Lee Friedlander, das Bonwit Teller & Co.-Schaufenster, bespielt von Andy Warhol, Skulptur Sortier Station und Diorama von Thomas Hirschhorn, das Tapp- und Tastkino von Valie Export.
https://www.diebalkone.net/nasantur [Zugriff: 29.11.2021]
https://medyanews.net/art-installation-in-berlin-features-demirtas-and-kavala/ [Zugriff: 29.11.2021]
http://benjamin-passagen.de [Zugriff: 01.12.2021]
https://www.palaisdetokyo.com/en/event/dioramas [Zugriff: 01.12.2021]
https://www.e-flux.com/announcements/81324/diorama-inventing-illusion/ [Zugriff: 01.12.2021] Lektorat: Anne Pitz