Künstler*innen­kollektive:
Gemeinsam dem Welt­lauf widerstehen?

Mirjam Elburn
10.12.2021
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Von Angelika Nollert, Kuratorin der Aus­stellung Kollektive Kreativi­tät 2005 im Kasseler Fridericianum, als verstärkt ost­europäisches und latein­amerika­nisches Phänomen beschrieben, schießen knapp 15 Jahre später welt­weit Kollektive wie Pilze aus dem Boden. Nollert empfand es als „Phänomen, das in Ländern, wo das Kollektiv als politische Vorgabe existierte, kollektive Strukturen (…) uminter­pretiert werden als (…) Strukturen, die es (…) ermöglichen, dieser oktro­yierten Kollekti­vität zu entgehen.“1

Der Kasseler „Bestandsaufnahme“ mangelte es, so Jochen Stöckmann auf DLF Kultur2 an einer Analyse des Phänomens. Ihr hatte sich KUNSTFORUM mit dem Themenband Künstlergruppen: Von der Utopie einer Kollektiven Kunst3 bereits 1991 genähert.

Was macht die Faszination einer gezielten Gruppenbildung, der „Aufgabe des Ich-Künstlers“4 zugunsten des Kollektives aus? Wo liegt die scheinbar unabdingbare Notwendigkeit? Warum „bröckelt der Mythos vom einsamen Genie“5 und macht die Bahn frei für Kunst-Kollektive bei allen großen Ausstellung?

Wurden beim renommierten Turner Prize bereits zuvor Kollektive wie Forensic Architecture nominiert, gewann das Architekturkollektiv Assemble 2015 den Preis. 2019 schlossen sich dann kurzerhand die Finalist*innen zum Kollektiv zusammen, um das Konkurrenzprinzip zu unterwandern. 2021 entschied man sich dann direkt 5 Künstler*innenkollektive fürs Finale zu nominieren.6

Es wird nicht länger das Einzelgenie zelebriert, vielmehr verlaufen die Grenzen zwischen Wissenschaft, Aktivismus und Kunst — rücken soziale und politische Fragen in den Fokus. Der genuine Pinselstrich wird von der Aktion abgelöst — Autor*innenschaft nebensächlich. Oder doch nicht?

Auch wenn Silke Hohmann7 2018 zum Jahr der aktivistischen Kollektive kürt, so zeigt die aktuelle Schau Gruppendynamik: Kollektive der Moderne im Münchener Lenbachhaus, dass Gruppenbildung vielmehr weltweit ein Merkmal der Moderne ist. Die lange Liste der Gemeinschaften beschreibt die Entwicklung weg vom Personenkult hin zum Kollektiv.

Ob der mit bereits globaler Perspektive angetretene Der Blaue Reiter, die Künstler*innenkolonie Worpswede, Die Brücke, NO!art, Guerilla Girls oder Pussy Riot, die Motivationen, Ausformungen und Ausdrucksformen sind so vielfältig wie die Individuen, die ein Kollektiv formen. Allen gemein ist der Gedanke: gemeinsam ist man stärker, kann sich Gehör und (Ausstellungs-) Raum verschaffen.
Waren es mit der Moderne zumeist Zusammenschlüsse zur Verteidigung ästhetischer Konzepte, ein Aufbegehren gegen als überholt empfundene akademische Dogmen oder der „reine Zwang Kunst und Leben zu integrieren“8, so überwiegt heute die Sehnsucht nach politischer Betrachtungsweise.

Einen erneuten Höhepunkt erleben die Kollektive nun mit der documenta fifeteen. Denn hier prägen Kollektive, Initiativen und Organisationen das Ausstellungsbild, eingeladen von ruangrupa, einem 2000 gegründeten indonesischen Kollektiv.

Auch wenn der Philosoph John Stuart Mill (1806-1873) dem grossen, schöpferischen Individuum des 19. Jahrhunderts eine größere Fähigkeit zu mehr Weisheit und Tugend zuspricht als dem kollektiven Menschen, scheinen Künstler*innen seit der Moderne mit einem Zuwachs an sozialer Unsicherheit und verschärften (Kunst-) marktforcierten Konkurrenzverhältnissen ein verstärktes Bedürfnis nach gemeinschaftlichem Handeln zu haben. Die künstlerische Aktion ist Gegenentwurf. Das Handeln ersetzt das Werk und Formfragen werden von einer Wertedebatte rund um Warenfetisch, soziale und politische Gerechtigkeit abgelöst.

Was nach Weiterentwicklung der kulturrevolutionären Bewegung der Neuen Linken der 1960er Jahre klingt, lässt Fragen nach dem Verhältnis von Kunst, Wirklichkeit und Politik aufkommen. Hier sind die anspruchsvollen Vorschläge ebenso vielfältig wie die kollektiven Ansätze. Kunst ist in ihrem Gehalt kritisch, im Gegensatz zur Kulturindustrie, so postuliert Herbert Marcuse.9 Durch die nicht beseitigbare Spannung zwischen Kunst und Wirklichkeit kann Kunst nicht Bestandteil einer revolutionärer Praxis werden.10

Anders als die oft aus einer monetären Notlage entstandene Ateliergemeinschaft oder die Werkstätten erfolgreicher Kunstschaffender, die ein Heer an Mitarbeiter*innen beschäftigen, um die Umsetzung des eigenen Entwurfs zu meistern, ist das Kollektiv ein programmatischer Zusammenschluss von Individualist*innen. Individualist*innen, die sich gezielt der Zuschreibung des selbstsüchtigen Individualisten, dem singulären und subjektiven Werk entziehen wollen. Sie entziehen sich dem Markt — durch Absage an die Benennung von Urheber*innen und Negation eines ewigen Werks. Durch Namensgebung, die Formulierung von Leitprinzipien oder Niederschrift von Manifesten formt sich das Kollektiv.

Aber bereits in der Moderne zeigte sich, dass die Sozialität besonders konfliktanfällig ist, denn trotz aller gemeinsamer visionärer Konzeptionen und Ziele, erfordert das Kollektiv unablässig Kompromisse.11 Die Zwänge des Kollektivs — eine beständige Konsensfindung — führen nicht nur zu internen Konflikten bis hin zur Gruppenauflösung, sondern lassen die Ränder der Kunst unscharf werden, ihre Form beliebig, die Kunst mitunter unspezifisch.


Können Partizipation12 und Gemeinschaftsbildung einen Beitrag zur Kritik der politischen Gegenwart leisten? Und wenn, wie? Welche Folgen hat das für die Kunst?

„Kunst heißt nicht: Alternativen pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre Gestalt, dem Weltlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt“13, so Adorno.

  1. Angelika Nollert zitiert bei Jochen Stöckmann: Kunst in der Gruppe. DLF Kultur 02.05.2005
  2. Jochen Stöckmann: Kunst in der Gruppe. DLF Kultur 02.05.2005
  3. Kunstforum (Bd.116/1991): Künstlergruppen: Von der Utopie einer Kollektiven, hg. v. Florian Rötzer in Zusammenarbeit mit Sara Rogenhofer. Köln 1991.
  4. Hanno Rauterberg: Kunstkollektive: Wir!Wir!Wir! auf: Zeit online 20. Okt. 2021 (DIE ZEIT Nr. 43/2021, 21. Oktober 2021)
  5. Ebd.
  6. Vgl. Miriam Stein: Let’s stick together: Kollektive Fordern das Genieprinzip heraus. Harpers Magazine, 13 Feb. 2021.
  7. Silke Hohmann: Jahresrückblick: Einsatzkommando Kunst, in: MONOPOL 23.12.2018
  8. Ernst Ludwig Kirchner zitiert in: Expressionism, a German Intuition, 1905-1920. Ausstellungskatalog der Solomon R. Guggenheim Foundation 1980-81, hg. v. Paul Vogt, Horst Keller, Martin Urban, Wolf-Dieter Dube und Eberhard Roters. New York 1980, S. 7.
  9. Herbert Marcuse: Konterrevolution und Revolte. Frankfurt am Main 1973, S.127.
  10. Ebd.
  11. Vgl. Hans Peter Thurn: Die Sozialität des Solitären. Gruppen und Netzwerke in der Bildenden Kunst, in: Ders.: Bildmacht und Sozialanspruch. Studien zur Kunstsoziologie, Opladen 1997, S. 81-123.
  12. Weiterführend hierzu: Silke Feldhoff: Zwischen Spiel und Politik. Partizipation als Strategie und Praxis in der bildenden Kunst. Berlin 2009 (Diss.).
  13. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften: Noten zur Literatur. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1990, S. 413.
Lektorat: Anne Pitz
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