Keime von etwas Neuem in schlammigen Pfützen
IndigoAktivistin
6.12.2021
Nach einigen regnerischen Spätherbsttagen gleicht Lützerath einem Schlammloch. Wenn die Welt mal wieder tagelang in grauem Novembernebel versinkt und sich nur noch einige Blätter verzweifelt an die Äste der alten Bäume klammern, Blätter die mittlerweile die verschwenderische Schönheit der Gelb- und Rottöne des Herbstes hinter sich gelassen haben, dann bleibt nicht viel Schönheit, nicht viel, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Und das Schlimmste: An solchen, immer kürzer werdenden Tagen vergisst man auch leicht die Schönheit der Bewegung, die sich hier entfaltet.
Lützerath ist winzig, und an Lützerath selbst ist eigentlich nichts, was hätte vermuten lassen, dass es irgendwann einmal die Titelseiten großer Zeitungen schmücken würde: Einige Häuser und Höfe, eng beieinander, und auch zu den Höchstzeiten lebten hier nicht mehr als einige Handvoll Familien. Um das Dorf erstreckt sich flaches Land, Felder, ungewöhnlich fruchtbarer Lößboden. Was Lützerath besonders gemacht hat, war nicht die eigentliche Geschichte des winzigen Dorfes, sondern vielmehr die Geschichte der Zerstörung des winzigen Dorfes, genauer gesagt, die Geschichte des Kampfes gegen die Zerstörung des winzigen Dorfes. Denn Lützerath wird nur noch zum Teil von jenem fruchtbaren Lößboden gesäumt. Zu einem großen Teil umgibt Lützerath etwas, was man auf den ersten Blick als Nichts oder als Verwüstung beschreiben könnte. Der Boden wird weggebaggert, von gigantischen Schaufelradbaggern, den größten fahrbaren Maschinen der Welt, wie RWE, der Betreiber des Braunkohletagbaus, nicht ohne deutschen Ingenieur*innen stolz verkündet. Was hier noch weggebaggert wird: Die grün gewaschenen Geschichten, die deutsche Politiker*innen mindestens seit der ersten Klimakonferenz vor 26 Jahren erzählen. Die Geschichten von Vorreitern der Energiewende, und das darunter liegende Märchen, das behauptet, es gäbe grünes Wirtschaftswachstum und damit einen grünen Kapitalismus.
Eigentlich muss man nur einmal in dieses Loch gucken, das „Tagebau Garzweiler II“ heißt, um zu verstehen, dass die Worte all dieser Politiker*nnen nicht nur Worte sind, denen keine Taten folgen, sondern schlicht und einfach Lügen. Das rheinische Braunkohlerevier ist die größte CO2 Quelle Europas. Und genau hier, wo die Klimazerstörung gemacht wird, wo ein Tagebau noch immer ganze Dörfer verschluckt, Feinstaubbelastung und Lungenprobleme verursacht, Quecksilber emittiert, das Grundwasser abpumpt und so Bäche und Feuchtgebiete versiegen lässt, haben sich sehr verschiedene Menschen zusammengefunden, um etwas zu verändern.

Wenn Lützerath selbst einem Schlammloch gleicht, und die Sonne so lange nicht unter dem grauen Teppich am Himmel hervorgelugt hat, dass man sie fast vergessen hat, dann sieht man den Zauber nicht auf den ersten Blick. An den inzwischen kahl stehenden Bäumen sieht man jetzt zwar die Baumhäuser, aber wenn man zu genau hinguckt, dann sind es doch nur Haufen aus Brettern, an die Planen getackert wurden. Eigentlich ist es etwas anderes, das man sich genauer anschauen muss, um den Zauber zu verstehen: Die Menschen hier.
Was haben ein bankrott gegangener Milchbauer, ein siebzehnjähriger militanter Veganer, eine Medizinstudentin und eine Tischlerin auf der Walz gemeinsam? Dass sie, vielleicht zufällig, vielleicht in einer lang erwogenen Entscheidung, diesen Ort ausgesucht haben, um zu kämpfen, und dadurch am Leben zu sein. Und so einer klaren Erkenntnis Ausdruck verleihen: Wie es ist, kann es nicht weiter gehen. Und eine Veränderung wird nicht einfach von staatlicher Politik kommen. Wir müssen sie erkämpfen.
Die Frage, die dieses riesige Loch in der Landschaft aufwirft, ist eine weit tiefergehende, als die nach der Energieversorgung. Denn dass Deutschland mitten in der Klimakrise als eines der Länder, die historisch die größte Schuld an der Klimaerhitzung tragen, weiter Kohle verbrennt, ist der blanke Wahnsinn. Und doch innerhalb dieser Wirtschaftsweise rational. Denn im Kapitalismus zählt nicht, was vernünftig wäre, um unsere Lebensgrundlage zu erhalten. Auch menschliche Bedürfnisse zählen nur indirekt. Was zählt, ist möglichst viel Profit zu erwirtschaften. Und zwar für einen Nationalstaat, also vor allem möglichst viel Profit im eigenen Land. Dafür braucht es eine stabile und möglichst autarke Energieversorgung. Und deswegen drehen sich die Schaufelräder weiter. Nicht etwa, damit zu Hause das Licht angeht oder im Krankenhaus die Beatmungsgeräte funktionieren. Sondern damit in deutschen Rüstungs-, Chemie- und Stahlwerken weiter produziert und exportiert werden kann. Damit Deutschland in der Standortkonkurrenz besteht und so das verbleibende CO2-Budget überstrapaziert, während es in vielen Ländern, die viel weniger zur Krise beigetragen haben, nicht ausreichend Krankenhäuser oder Straßen gibt. Und damit auf diese Weise möglichst viele Menschen arbeiten und Steuern zahlen, auf die der Staat angewiesen ist. Weswegen von ihm auch wenig Veränderung zu erwarten ist.
Wenn die Veränderung also nicht vom Staat kommen wird, von wo kommt sie dann? Die Antwort ist einfach und kompliziert zu gleich: Von uns. Wir sind es, die durch unser Handeln täglich eben jene Wirtschaftsweise produzieren. Indem wir arbeiten und einkaufen, indem wir gehorchen und uns fügen, indem wir studieren, Fahrkarten kaufen, Autos bauen, kellnern. Wir sind es, die diese gesellschaftlichen Verhältnisse schaffen, es gibt keine Kraft außerhalb der Gesellschaft, die sie lenkt. Weder die Regierung noch Bill Gates stellen unsere Lebensbedingungen her. Und keiner könnte diese Wirtschaftsweise erhalten, wenn wir alle aufhören würden, sie herzustellen. Aber, und hier wird die Antwort deutlich komplizierter, wir tun es nicht auf eine bewusste Art und Weise. Wir entscheiden uns nicht für eben jene Handlung, weil wir sie gut finden. Und das noch Verzwicktere daran: Wir können uns nicht einfach gegen jene Handlung und für eine andere entscheiden. Denn wenn wir nicht arbeiten gehen, dann haben die meisten keinen Zugang zu dem, was sie brauchen. Wenn wir keine Fahrkarten kaufen, dann kommen wir ins Gefängnis. Wenn wir keine Autos bauen, und darauf bestehen, in einem „ökologischen“ Unternehmen zu arbeiten, dann ist das Unternehmen höchstwahrscheinlich, sobald es erfolgreich ist, das heißt am Markt besteht und uns einen sicheren Lebensunterhalt bieten kann, nicht mehr ökologisch. Und indem wir dort arbeiten, tragen wir auch zur Kapitalakkumulation bei und stellen so eine Wirtschaftsweise her, die uns selbst und etliche weitere Lebensformen zerstört.

Darin, dass wir es sind, die diese Wirtschaftsweise herstellen, liegt die Hoffnung auf Veränderung. Darin, dass es innerhalb dieser Wirtschaftsweise so schwer ist, anders zu handeln und trotzdem unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen, liegt eine betäubende Ohnmacht. Diese Ohnmacht können wir nur kollektiv zurückdrängen. Und genau dies vereint so unterschiedliche Menschen an Orten wie Lützerath, an Orten, wo der fossile Kapitalismus die Lebensgrundlagen zerstört: Wir brauchen uns. Wir brauchen alle, die hier herkommen, egal wie groß die Unterschiede sind. Wir sind abhängig voneinander. In Lützerath wird das deutlich, weil diese Abhängigkeit nicht wie sonst im Kapitalismus von Getrenntheit überspielt wird, von der Illusion, Geld wäre nur Geld, und in dem, was wir damit kaufen, stecke nicht all die Arbeit, die andere für uns geleistet haben. An Orten wie diesem werden Menschen ohne Zwang und ohne direkte Belohnung tätig, bauen Baumhäuser, schnippeln Gemüse, putzen die Kompost-Klos, machen Presse-Arbeit oder planen Blockade-Aktionen – einfach, weil es ihnen wichtig ist. Über die gemeinsamen Probleme wird im Plenum und in zahlreichen Arbeitsgruppen gesprochen, bei denen alle mitreden können. Diese Form des In-Beziehung-Tretens ist eine ganz andere als die des Marktes, wo das Geld uns voneinander trennt und isoliert, wo wir uns verwerten und gegen andere durchsetzen müssen. Deshalb sehen wir darin Keime einer ganz anderen, einer solidarischen und freien Gesellschaft.

Einer solchen Gesellschaft und der Entfaltung dieser Keime, steht zweifellos einiges entgegen: Zu viele Dinge, die wir bräuchten, um das zu produzieren, was wir zum Leben brauchen, befinden sich in privaten Händen und dienen der Vermehrung von Kapital. Der Staat beschützt diese mit seinem Eigentumsrecht und seinen bewaffneten Vollstreckungsorganen, der Polizei. Deshalb wird ein Übergang in eine solche Gesellschaft nicht reibungslos sein. Reibungslos ist auch das Leben in Lützerath nicht. Die Bedrohung der Räumung, damit RWE Profite machen kann, schwebt über allem, was hier entsteht. Auch andere gesellschaftliche Probleme wie Rassismus und Patriachat machen nicht einfach Halt vor den Toren des Protestcamps.
Manchmal ist das alles so erdrückend wie der graue Novemberhimmel. Und es verleitet zum Zweifeln, aber nicht zum Aufgeben. Zweifel kann überraschend produktiv sein. Und zu einem fragenden Voranschreiten führen. Deswegen steckt so viel Hoffnung in diesem winzigen Ort, auch wenn er manchmal im Schlamm versinkt. Nicht wegen der CO2 Emissionen, die wir einsparen können, wenn die Kohle unter Lützerath im Boden bleibt, sondern wegen der sozialen Prozesse, die hier beginnen und vielleicht weiter führen, als wir uns gerade vorstellen können.
Lektorat: Anne Pitz
Fotos: @catwithanicecamera