Suyuna / Ins Wasser

Kıymet Daştan

8.12.2021
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Der Beirut-Fluss / 18.03.2019

TEIL 1 / 33° 51’ 41.0”N 35°32’41.3”E  (FLUSS / BODEN)

Gibt es allen Eingriffen zum Trotz Hinweise auf die Vergangenheit oder in die Zukunft eines Flusses, die sich in den topografischen oder baulichen Strukturen um ihn herum verbergen? Dass der Beirut-Fluss, der aus dem Gebirge kommt und ins Meer mündet, an seine Umgebung angepasst wurde, indem er mit Beton ausgegossen wurde, ist etwas, das in jeder Stadt vorkommt – und eine Tatsache, die nicht weiter auffällt, wenn man in der Stadt ist. Während die Stadt wächst, wird der Fluss immer weiter in Richtung seiner Herkunft in Beton eingefasst. Eine Bewegung in Gegenrichtung der Wasserströmung, wie bei Fischen, die gegen den Strom schwimmen.

Im Gegensatz zu Gaston Bachelard, der sagt, er habe Freude daran, einem Bach zu folgen, am Ufer entlang in die richtige Richtung zu gehen, in der das Wasser fließt und die das Leben anderswo hinleitet – zum nächsten Ort, mache ich mich flussaufwärts auf den Weg, um herauszufinden, wo der Beton endet. Ich komme in ein Gebiet, in dem sich Fabriken und in ihrem Umkreis einige Strukturen aus Beton befinden. Ich gehe durch eine Glasfabrik bis zu einem Punkt, wo ich direkt auf das Zusammentreffen von Beton und Natur blicken kann. Ich betrachte diese Stelle genau, an der sich eine menschengemachte Mauer und die Natur in entgegengesetzte Richtungen ausdehnen: Der Beton wird in die eine, das Wasser in die andere Richtung geleitet.

Die Betonmauer, die einen horizontal zum Meer fließenden Fluss umschließt, scheint auf eine unsichtbare Linie hinzuweisen, die das Natürliche vom Künstlichen vertikal trennt. Die Vertikale an diesem Punkt, die im Gegensatz zu ihrem Erscheinungsbild nicht dauerhaft ist, vermittelt ein Gefühl der Unvollkommenheit. Es ist, als ob vor mir ein Riss läge, in dem sich die Zeit mit all ihren Dimensionen öffne. Ich denke, dass die Betonierung in Zukunft weiter in Richtung der Quelle fortschreiten wird und diese Betonmauer bedeckt sein wird, wie die entlang des Flusses installierten Solarkollektoren in Burjhmoud voraussehen lassen.

Ich denke darüber nach, wie sich die Menschen von der Natur inspirieren lassen, um die Technik zu verbessern und wie sie gleichzeitig die Technik benutzen, um natürliche Ressourcen zu zerstören. Hier gibt es keine sichtbare Grenze zwischen den beiden Bereichen: sie nähren sich gegenseitig. Wenn auf diesen Punkt eine Linie gesetzt wird, kann sie als Veranschaulichung dienen, aber diese rote Linie bezeichnet die Beziehung zwischen der Natur und dem menschlichen Leben. Ich sehe in dieser roten Linie einen Ausgangspunkt, eine Nadel… ihre Koordinaten sind 33° 51’ 41.0”N 35°32’41.3”E. Daran sollte man denken.

Der Beirut-Fluss / 18.03.2019

TEIL 2 / BLEIB IM FLUSS, SCHWIMM MIT DEM STROM (NETZWERK / VIRTUELLE REALITÄT)

Während der Behandlung im Krankenhaus wegen einer Infektion hat man mich mit COVID-Verdacht in einem Einzelzimmer isoliert. Ich darf das Zimmer nicht verlassen. In der Pandemie, wo man sich nicht mehr unter die Menschen mischt, erreiche ich buchstäblich den Tiefpunkt einer virtuellen Auflösung. Mein Telefon begleitet mich in meinem Bett, wo ich liege. Ich halte mein Telefon direkt vor meinem Gesicht, die Arme um 90 Grad angewinkelt und verliere mich im Fluss meines Instagramfeeds, den ich pausenlos anschaue. Mit der Zeit wird meine Durchblutung schlechter, aber ich kann mich nicht aus dem Sog befreien, bevor meine Arme taub werden. Wenn ich ihm entkommen kann, habe ich nicht die leiseste Erinnerung an das, was ich während der vielen Stunden gesehen habe. Ich erinnere mich noch nicht einmal, dass ich die Inhalte, die ich bereits gesehen habe, gesehen habe. Es gibt etwas beim exzessiven Konsum der sozialen Medien, das die Erinnerung auslöscht und einen vom Leben trennt. Aber gleichzeitig spricht Steven Madoff von einem horizontalen Fluss, wenn er die Netzwelt beschreibt. Es klingt schön, wie er über die horizontalen und fließenden Grenzen zwischen den Wissenschaften spricht. Wir sind dank des Netzwerks virtuell miteinander verbunden, so wie Menschen eben miteinander verbunden sind. Aber in letzter Zeit kommen Feeds immer im Status quo, als eine Art Aufforderung, „mit dem Strom zu schwimmen”.

Der Beirut-Fluss / 08.12.2018

TEIL 3 / ADER ÜBER ADER (KÖRPER / VENEN)

Sie stechen in die Vene, wenn sie mir Blut am Arm abnehmen. Die Einblutungen der Vene unter die Haut färben sich anfangs rot, dann dunkelrot, dann mit der Zeit grün und sie verursachen beim Verheilen heftige Schmerzen. Die Empfindung der Verwesung in meinem Arm lässt mich an den Müll der Großstädte denken, die über die Flüsse den Boden vergiften. Wenn ich mir die Erde als einen Körper vorstelle, sind die Kanäle, die in den Boden führen, mit Wunden vergleichbar. Sowohl körperfremde, an verstopfte Gefäße angebrachte Elemente als auch lebensverlängernde Maßnahmen sind Versuche, den anatomischen Befund einer zerstörten Topografie der Leitungsbahnen herauszögern. Stents werden in verstopfte Blutgefäße gesetzt, Maßnahmen zur Lebensverlängerung… Jedes Loch, das für Vermögenseinkommen im System gegraben wurde, zielt auf die Lebensverlängerung von Staaten. Aber die Lebenserwartung der Menschen verlängert sich nicht, wenn die geografisch unbeständige Topografie von Menschenhand durchbohrt wird.

Die Mutter einer Freundin betrachtet lieber einen fließenden Fluss als das Meer, weil ein Fluss nicht auf der Stelle stagniert. Der Fluss steht für die Zeit und es macht Freude, dem Fluss der Zeit zuzuschauen. Aber kann man von der Freude beim Zuschauen reden, wenn ein Kanal mitten in einer Stadt, die sich rasant in Beton verwandelt, ausgehoben werden soll (Istanbul-Kanal)?

Wenn ich an Flüsse denke, kommt mir alles in den Sinn, was ich über Venen weiß. Wenn dein Bein einschläft oder du einen Krampf hast, gibt es die (türkische) Redensart „Eine Vene hat sich über eine andere gelegt. Das vergeht.” Da die Lage der Venen im Körper festgelegt ist, bedeutet dieser Spruch für mich eher, dass der momentane Stress vorübergeht. Verunreinigtes und reines Blut mischen sich doch nicht im Körper, oder? Es scheint so zu sein, dass Verunreinigtes und Reines, das sich im menschlichen Körper normalerweise nicht mischt, in Flüssen mischt. Flüsse als die älteste und einfachste Form der Abfallentsorgung, ob mit guten oder schlechten Absichten, werden unvermeidlich zu Organen, die den Abfall ins Meer befördern.

Man sagt, wenn du etwas vergessen willst, erzähle es dem fließenden Wasser. Wissenschaftler*innen diskutieren, ob Wasser ein Gedächtnis hat. Mein Vater warf meine Nabelschnur in den Karasu-Fluss (Türkei). Er wollte, dass seine Tochter eins mit dem Fluss wird, Grenzen überschreitet, viele Orte sieht, sich bewegt und sich vermehrt. Moses Vater ließ ihn im Nil zurück, um ihn vor der Tyrannei der Ägypter zu retten. Es ist üblich, nicht von den menschlichen Körpern zu sprechen, die in den Fluss geworfen wurden, um Kugeln im Dersim-Massaker zu sparen oder von den Bildern der verstorbenen COVID-Patienten, deren Körper in die indischen Flüsse geworfen wurden. Aber wenn Flüsse ihre Farbe ändern, werden die verbreiteten Theorien über die Gründe nicht vergessen, wenn der Fluss rot ist. Wir sprechen über das Verhältnis der Flüsse zur Erinnerung, über die Vergänglichkeit von Flüssen, ihre Fließfähigkeit, die Unzuverlässigkeit von flüssigen Dingen… Kann ein Fluss, der Grenzen überschreiten kann, der aber auch einen Anfang und ein Ende hat, etwas Befreiendes sein?

Übersetzung: Anne Pitz

Literatur:
Gaston Bachelard: Water and Dreams. An Essay on ther Imagination of Matter. Paris. 1942
Steven Madoff: The Power of the Unseparate: The Explosion of Interdisciplinary Art in a Networked World.
Sonja Roth: An Exploration of Water in Sound Art. Masterarbeit an der Universität Glasgow. 2016.
https://sonjaroth.ch

Mein besonderer Dank gilt Aria Farajnezhad, die mich daran erinnerte, nochmals über den Fluss nachzudenken, an Nadim Choufi, der die Reise zum Beirut-Fluss möglich machte, an Cansu Çakar und Pınar Umman, die mich zum Schreiben ermutigten und an Melike Barsbey für die Übersetzung.

VOILÀ ist ein Kooperationsprojekt von MM, M und der Stadtgalerie Saarbrücken. Das Projekt wird gefördert von der Stiftung Kunstfonds (NEUSTART KULTUR, Projektförderung für kunstvermittelnde Akteur*innen) und Saarland-Sporttoto GmbH.

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